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Schwarze Kacheln

Interaktionskonzept als Antwort auf das Problem digitaler Anonymität in Großveranstaltungen FB08

Ein Interview mit Frau Prof. Dr. Regina Hahn, FB08, in der Le/Ni-Beilage des Hochschulmagazins NIU.

Der Blick hinter schwarze Kacheln
Frau Prof. Dr. Hahn ist seit Januar 2017 Professorin für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Organisationsentwicklung und Unternehmensführung, am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften. Ende 2017 erhielt sie den Lehrpreis der HSNR für „Herausragende Leistungen in Grundlagen- und Großgruppenveranstaltungen“.Wir haben Frau Prof. Dr. Hahn zu ihren Erfahrungen rund um den Kurs „Organisation“ interviewt, der eigentlich in Präsenz stattfindet, den sie zu Beginn der Pandemie jedoch auf digital umstellen musste. Es handelt sich um eine Pflichtveranstaltung, die von bis zu 400 Studierenden aus sechs Studiengängen belegt wird, davon circa die Hälfte Erstsemester.
 

Welcher Herausforderung sahen Sie sich gegenübergestellt, als Sie Ihre Großveranstaltung auf einmal rein digital abhalten mussten?

Ich habe vor allem drei große Herausforderungen gesehen: Erstens, mit den Studierenden trotz der großen Gruppe digital in den Austausch zu kommen und Feedback sowohl geben als auch erhalten zu können. Zweitens, die Interaktion der Studierenden untereinander zu fördern und so die digitale Anonymität aufzubrechen. Und drittens die Selbstorganisation – insbesondere der Erstsemester – im Sinne eines „from teaching to learning“ anzuregen, also einer Unterstützung zum eigenständigen Lernen.

Studieren bedeutete ab Beginn der „Corona-Semester“ zumeist: allein vorm PC sitzend studieren. Mit welchem Konzept und mit welcher Idee sind Sie der drohenden Vereinzelung der Studierenden begegnet?

Aus der Lernpsychologie wissen wir, dass das Lernen in Kleingruppen zu stabileren Lernsituationen führt, was wiederum die Motivation der Studierenden deutlich erhöhen kann. Daher habe ich die Idee der Lerngruppen, die es so bereits im Präsenzkurs gegeben hatte, in den digitalen Raum verlagert. Mithilfe von Moodle habe ich digitale Lernteams gebildet, um die Interaktion zwischen den Studierenden anzukurbeln. In meinem Kurs waren dies circa 20 Gruppen (pro Gruppe bis zu 20 Studierende), die über das ganze Semester hinweg Bestand hatten. Die Gruppen trafen sich im virtuellen Raum zu festen Terminen, um die Inhalte des Kurses gemeinsam zu vertiefen.

Wurden die Studierenden von Ihnen rein zufällig eingruppiert oder gab es Kriterien?

Im ersten Durchgang fand die Zuordnung der Studierenden tatsächlich zufällig statt. Das Feedback der Studierenden dazu war jedoch, dass sie gern Kommilitoninnen und Kommilitonen aus ihrem eigenen Studiengang kennenlernen würden. Deshalb habe ich mir ab dem nächsten Semester die Mühe gemacht, die Studierenden – abhängig von Studiengang und Semester – manuell zuzuordnen. Manche Lerngruppen blieben so auch über die eigentliche Veranstaltung hinaus bestehen.

Welche Methoden des Lehrens und Lernens haben Sie zu welchem Zweck eingesetzt? Wie haben Sie das Lernen angestoßen und das Arbeiten in den Kleingruppen angeleitet?

Mir war zunächst wichtig, dass sich die Studierenden in ihren Lerngruppen als Team verstehen. Dafür habe ich eine Art „Teambuilding“ angeleitet: Die Studierenden stellten sich einander vor, legten gemeinsam Arbeitsregeln fest und einigten sich, welche Kommunikationskanäle sie für welche Zwecke nutzen wollten. Sie stimmten sich untereinander ab, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit sie sich wöchentlich digital zur Gruppenarbeit „treffen“ würden. Eine Gruppenleiterin bzw. ein Gruppenleiter wurde gewählt, die oder der u.a. die Aufgabe übernahm, Abgabetermine im Blick zu halten und die gemeinsamen Lösungen fristgerecht hochzuladen.

Der Ablauf für die Studierenden war dann jede Woche gleich: Lose angelehnt an die „Think-Pair-Share Methode“ haben sich die Studierenden anhand von Screencasts (Video- oder Ton-Clips) erst einmal allein neue Inhalte erarbeitet und Anwendungsaufgaben zur Vertiefung gelöst. Zu jedem neuen Inhalt gab es zudem einen Moodle-Test zur Selbstüberprüfung. In ihren – selbst angelegten – digitalen Gruppenmeetings haben die Studierenden anschließend gemeinsam Gruppenaufgaben bearbeitet. Dabei haben sie die individuell erarbeiteten Lerninhalte analysiert und auch neue Sachverhalte bewertetet, z.B. in Form von kurzen Fallstudien. Sowohl die individuellen Lösungen zu den Anwendungsaufgaben als auch die Lösungen der Gruppenarbeiten wurden auf Moodle hochgeladen. Ich habe die Antworten und Lösungen dann in anonymer Form für das Plenum aufbereitet, um gezielt Feedback geben und Diskussionen anstoßen zu können. Typischerweise habe ich jeweils eine besonders gelungene Lösung vorgestellt und erklärt, was daran gut ist, sowie eine Lösung gezeigt, bei der einige Dinge verbessert werden konnten. Zusätzlich hatten die Studierenden die Gelegenheit, über das Moodle-Feedback-Tool anonym Fragen zu stellen, die ich dann ebenfalls in meinen Screencasts beantwortet habe.

Für die Aufgabenstellungen habe ich sehr unterschiedliche Formate verwendet: In Abhängigkeit vom jeweiligen Thema musste die Lösung zur Aufgabe z.B. in Form einer vertonten Powerpoint-Präsentation eingereicht, im Gruppenforum diskutiert, im Etherpad bzw. später auch über Conceptboard oder Padlet erarbeitet oder im Sinne eines Peer-Feedbacks beurteilt werden.

Zwischen den wöchentlichen Treffen in der Kleingruppe gab es Zoom-Termine zur Reflexion, für sogenannte „Lernstopps“ im Plenum. Dabei ging es darum, die bearbeiteten Lerninhalte noch einmal in den Kontext zu stellen und offen Gebliebenes zu klären.


Welche Vorteile bringt die Einführung stabiler digitaler Kleingruppen für die Studierenden mit sich?

Den größten Vorteil sehe ich in der sozialisierenden Funktion: Die Anonymität wird aufgehoben, indem sich die Studierenden einer Gruppe zugehörig fühlen. Die schwarzen Kacheln werden gegen Gesichter ausgetauscht. Die Interaktion im geschützten Raum der Lerngruppe vermittelt ein Gefühl der Verbundenheit. Zudem entsteht eine Art positiver Gruppendruck: Es fällt auf, wenn jemand nicht da ist oder sich nicht beteiligt. Stille zurückhaltende Studierende trauen sich in den kleinen Gruppen eher etwas zu sagen als im Plenum. Studierende, die die Lerninhalte bereits gut beherrschen, vertiefen ihr eigenes Wissen durch Lehren, indem sie den anderen etwas erklären. Demgegenüber bekommen Studierende, die bestimmte Inhalte noch nicht nachvollziehen können, diese von ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen noch einmal anders erklärt, als ich das vielleicht getan habe. Nicht zuletzt schulen die Studierenden ihre sozialen Kompetenzen durch das stetige – wenn auch nur digitale – Miteinander. Die digitalen Lerngruppen vereinfachen die Kommunikation untereinander sowie den Austausch mit mir als Lehrende. Dadurch, dass ich mich auch mal zuschalte und somit als Lehrende präsent bin, fühlen sich die Studierenden wertgeschätzt und auch das trägt zur Motivation bei.

Welchen Vorteil sehen Sie für sich und Ihre Lehre?

In den Lerngruppen kann ich ganz anders mit den Studierenden ins Gespräch kommen und diskutieren als im großen Plenum mit mehreren Hundert Studierenden. Ich kann die Lernstände deutlich besser einschätzen und erhalte durch die Lösungen, die die Lerngruppen hochladen, einen guten Überblick darüber, wo die Studierenden derzeit stehen. Das, was auf Moodle hochgeladen wird, werte ich aus und kann so sehen, welche Themen ich noch einmal vertiefen sollte. In meinen Screencasts gehe ich auf noch offene Fragen ein und gebe konkretes konstruktives Feedback zu den hochgeladenen Lösungen. Eine Entlastung erfahre ich in der Hinsicht, dass die Studierenden sich gegenseitig viele Fragen selbst beantworten und sich gegenseitig helfen. So läuft nicht alles bei mir auf.

Wenn Präsenzveranstaltungen wieder möglich sind, kehren Sie dann zurück zu Prä-Corona-Zeiten? Denken Sie über ein hybrides Veranstaltungsformat nach?

Durch die gemachten Erfahrungen fühle ich mich darin bestärkt, dass das Konzept des „Inverted Classroom“ Erfolg bei den Studierenden hat und zu besseren Lernergebnissen führen kann. Angeleitet z.B. durch Screencasts erschließen sich die Studierenden zunächst allein Fachinhalte, die sie dann in ihrer Lerngruppe besprechen. Egal ob derzeit digital oder demnächst wieder in Präsenz bleibt so im Plenum viel Raum, miteinander zu diskutieren, das erworbene Wissen anzuwenden und weiter zu denken. Ob ich meine Großveranstaltungen auf „hybrid“ umstelle, kann ich noch nicht sagen. Da bin ich noch unschlüssig. Letztlich ist ja auch die Frage, wie man hybrides Lehren definiert: Gleichzeitig Studierende in Präsenz und im digitalen Raum zu betreuen, stelle ich mir herausfordernd vor. Wahrscheinlich wird ein Herantasten und ein Ausprobieren zeigen, wie eine gute Balance aus analog und digital aussehen könnte. Welchen Namen das Format dann trägt, ist wohl nebensächlich.

Jede Erprobung von Neuem birgt immer auch wahrgenommene und tatsächliche Risiken. Das interessiert natürlich auch Lehrende, die Ihre Idee adaptieren oder Vergleichbares erproben wollen. Welche Risiken können Sie benennen?

Anfangs hatte ich das Gefühl, dass mir die digitalen Lerngruppen ein wenig entgleiten: Die Lerngruppen haben sich eigene Kommunikationskanäle gesucht und nicht strikt die von mir eingerichteten Moodle-Gruppen-Foren genutzt. Hier musste ich lernen, loszulassen und mich damit anfreunden, teils eben „nur“ die hochgeladenen Lernergebnisse einsehen zu können. Mittlerweile habe ich aber einen guten Weg gefunden, mich auch während der Lernprozesse in die digitalen Gruppen zuzuschalten bzw. mit den Gruppen abzustimmen, wann wir uns wie digital „treffen“. Und ich richte meine Screencasts eben an den Themen aus, die offensichtlich noch Vertiefung oder weiteres Input benötigen, was ich von den hochgeladenen Lösungen ableite.

Ansonsten besteht die Herausforderung genau wie in Präsenz darin, die Studierenden das Semester über „bei der Stange“ zu halten und den Lehrplan so auszurichten, dass die Studierenden motiviert lernen. Hier bietet der digitale Raum vielleicht sogar mehr Formate zur Vermittlung der Lehrinhalte und somit mehr Abwechslung und positive Anreize für die Studierenden.


Wie hoch war der zeitliche Aufwand in Bezug auf die Konzeption und Umsetzung im Semesteralltag?

Der Initialaufwand im ersten digitalen Semester war natürlich sehr hoch und der Zeitaufwand groß. Ich musste die Lernmaterialien erstellen und insbesondere in Moodle auch alle Gruppen mit den entsprechenden Abgaben, Tests, Etherpads usw. anlegen. Mittlerweile kann ich meine Zeit anders einteilen und mich deutlich mehr auf die fachliche Begleitung und die Betreuung der Studierenden in ihren Gruppen und im Plenum konzentrieren. Das galt aber immer auch schon für meine Präsenzveranstaltungen, da ich generell keine klassische Frontallehre mache. Für den digitalen Raum wollte ich ebenfalls keinen Vorlesungsmonolog über Zoom halten. So funktioniert Lehre und Lernen für mich nicht. Für mich steht ein angeleitetes Lernen im Vordergrund. Das Feedback der Studierenden ist mir dabei besonders wichtig: Welche Tools bringen ihnen etwas? Was benötigen sie, um sich die Inhalte besser erarbeiten zu können? An welcher Stellschraube können wir drehen? Über das Moodle-Feedback-Tool konnten die Studierenden wöchentlich anonym Rückmeldung geben, auch zu den angebotenen Lernmöglichkeiten. So konnte ich fortlaufend optimieren.

Wie möchten Sie ihr Konzept weiterentwickeln für das sie 2021 mit dem Lehrpreis ausgezeichnet wurden?

Förderlich wäre es, noch kleinere Lerngruppen bilden zu können. Ideal wäre eine Größe von circa sechs Studierenden. Hierfür ist jedoch der Administrationsaufwand schlichtweg zu hoch. Bis zu 400 Studierende in Sechserteams aufzuteilen und zu betreuen ist alleine nahezu unmöglich. Das ginge nur mit personeller Unterstützung. Zudem würde ich die Lerngruppen gern noch intensiver begleiten und ich würde sie gern – im Sinne des Peer-Feedbacks – noch stärker untereinander vernetzen. Der Einsatz von spieltypischen Elementen, also Gamification, wäre sicherlich ein großer Motivator: Die Entwicklung von Challenges, sodass die Lernteams gegeneinander antreten könnten, ist eine meiner Zukunftsvisionen.

Ein großes Thema ist in meinen Augen zudem das Thema Prüfung. Auch hier habe ich einige Ideen, wie die Prüfungsform das semesterbegleitende Lernen fördern kann: Für mein digitales Lehrformat kann ich mir mittelfristig eine Portfolioprüfung gut vorstellen, um den Lernprozess stärker in den Fokus zu rücken und weniger das finale Ergebnis. Es gibt also noch einiges zu tun.

Wir danken Ihnen für das Interview.

Erschienen in: 1. Ausgabe: Das Interview ist erschienen in der hochschuldidaktischen LeNi-Beilage der NIU-Ausgabe von November 2021.