Vorbereitung
Ich musste Nachmieter für meine, eigens renovierte Wohnung in Mönchengladbach finden, überlegen was ich für eine so lange Zeit im Ausland brauchen würde, Visum beantragen, Prüfungen schreiben und mich von meiner Familie, meinen Freunden und meinem Freund verabschieden.
Ankunft
Die Ankunft der deutschen Studenten, plus Professoren, war von den Chinesen gut geplant worden: Zwei Mitarbeiter der Polytechnic University Tianjin würden die Anreisenden direkt beim Terminalausgang abpassen und mit einem gemietetem Reisebus in ein Restaurant fahren, um gemeinsam dort zu essen. Danach würden wir unsere neuen Zimmer beziehen.
Wohnsituation
Einer der größten Überraschungen stand uns allen noch bevor: Wir mussten uns zu zweit ein Zimmer teilen. Damit hatten wir nicht gerechnet und waren alle für einen kurzen Moment etwas überfordert. Uns war es nach etlichem Mailaustausch gelungen herauszufinden, dass wir nicht wie die chinesischen Studenten in einem Wohnheim, sondern in einem Hotel wohnen würden, aber über die Wohnsituation war, auch bei direkter Nachfrage, geschwiegen worden.
Ab dem zweiten Semester hatte ich eine turkmenische Mitbewohnerin, mit der ich mich leider nicht wirklich verständigen konnte und im dritten Semester kam dann Julia (eine neue Kandidatin für den Doppelbachelor) in das Zimmer.
Auslandserfahrung
Das Schöne an einem Auslandsaufenthalt in China ist, dass alle vom Erfahrungswert Null beginnen, denn Chinas Kultur ist so anders, trotz allmählicher Westernisierung, dass man sich nicht darauf vorbereiten kann. Natürlich ist es hilfreich, wenn man bereits Auslandserfahrung gesammelt hat, aber das ist nicht zwingend notwendig. Ein Auslandssemester ist meiner Meinung nach die Chance, etwas Wichtiges über sich selbst rauszufinden.
Chinesen
Leider hat man weniger mit den chinesischen Studenten zu tun, als gedacht. Obwohl sich die Uni, durch gemeinsame Aktivitäten, das Feiern des Drachenbootfestivals oder Ausflügen, bemüht den Kontakt herzustellen. Ich stellte fest, dass sich besonders die Austauschstudenten untereinander (seien es Koreaner, Turkmenen, Russen, Engländer, Spanier, Srilankaner) mehr miteinander beschäftigten, als mit den Chinesen. Das lag ganz einfach an der gemeinsamen Wohnsituation und Vorlesungen. Noch stärker verband einen eine gemeinsame Sprache oder Kultur. Aber es gab immer ein paar Leute die ganz gezielt den Kontakt zu anderen Nationen suchten und eine Brücke bildeten.
Woran man sich in China schnell gewöhnen sollte ist die Art und Weise wie Chinesen mit verschiedenen Situationen umgehen. Sie denken und handeln in einer Weise die (oberflächlich betrachtet) komisch, kalt, unlogisch oder umständlich wirken kann.
Chinesen legen großen Wert darauf Gefühle nicht zu zeigen (damit meine ich vor allem negative Gefühle), denn sie wollen nicht ihr Gesicht verlieren. Zumindest die alte Generation ist wirklich sehr gelassen. Es ist schwierig sie aus der Ruhe zu bringen, denn sie nehmen sich einfach die Zeit die sie brauchen. Chinesen sind mit manchen Situationen auch einfach mehr überfordert, als man es denken könnte. Chinesen werden nicht darin ermutigt, eigenständig zu denken oder zu handeln. Menschen die mit fast 30 noch Ausgangssperre haben, nur an zwei Stunden pro Tag Zugang zu warmen Wasser, die im ersten Semester Militärübungen machen, die kein Englisch sprechen, wenn sie es nicht perfekt können, die unter enormen Druck stehen, weil es über 1.4 Billionen von ihnen gibt, die in ein System geboren werden wo Individualität nicht existiert, wie sollen sie plötzlich im Berufsleben souverän reagieren.
Bachelorarbeit
Ich entschied mich die Bachelorarbeit in China zu schreiben, da uns zuvor offengelassen wurde, ob wir sie eben vor Ort oder in Deutschland zu Ende bringen wollten
Wir wurden zu Beginn des zweiten Semesters Projekten zugeteilt, worüber man dann schreiben sollte. Natürlich waren die restlichen Projektmitglieder Chinesen, die einen Bachelor oder Masterabschluss anstrebten. In meinem Projekt konnte keiner wirkliches Englisch und das Verständigen stellte sich nicht nur als schwierig, sondern hauptsächlich als zeitaufwendig raus. Ich entschloss mich kurzerhand mein eigenes Projekt zu starten. Die Luftverschmutzung in Tianjin greift leider auch in den Alltag ein, da man an manchen Tagen den Staub sprichwörtlich mit dem bloßen Auge sehen kann und es auch nicht ratsam ist mit sportlichen Outdooraktivitäten zu übertreiben. Deshalb habe ich mich mit Atemmasken beschäftigt. Eigentlich ist es die Aufgabe der Regierung, Fabriken und die Automobilindustrie zu zwingen effektive Filter zu benutzen, um die Lebensqualität der Menschen zu sichern. Wenn das jedoch nicht der Fall ist, muss sich der Mensch selbst schützen. Atemmasken sind keine schöne Angelegenheit. Man sieht nicht nur aus, als käme man gerade von einer OP, sondern das Tragen fühlt sich auch nicht sonderlich gut an (was am Druckabfall liegt) und ist obendrein sehr unpraktisch (Trinken und Essen geht leider nicht). Ich wollte eine Maske herstellen, dessen Membran ultradünn ist und dennoch effektiv filtert.
Rückkehr nach Deutschland
Das Schlimme ist, dass nach über einem Jahr in demselben Zimmer, derselben Stadt, demselben Land ein Zuhause daraus geworden ist. Du verlässt dein Zuhause und musst dir wieder ein Neues suchen. Erstmal zurück zu den Eltern ist für die meisten eine Option, für mich aber nicht. Ich habe mich schon zu sehr an meine Eigenständigkeit gewöhnt und es wäre wie ein Rückwärtsschritt. Noch dazu kommen all die Menschen, die ich getroffen, kennengelernt und lieben gelernt habe und die dann nicht mal ein Zimmer nebenan, oder ein Stockwerk untendrunter anzutreffen sind. Dafür sehe ich wieder alle anderen aus der Zeit vor China. Viele benutzen diese Metapher: „Ich verlasse das Land mit einem weinenden und einem lachenden Auge.” Und genauso ist es. Bei mir kommt das nun abgeschlossene Studium dazu, mit welchem ein neuer Lebensabschnitt für mich beginnt.
Nachwort
Chinesen sind anders als jedes Volk das ich kennengelernt habe und das ist gut so. Ich habe sie ins Herz geschlossen. Der Aufenthalt in ihrem Land war aufregend und hat mir mehr gebracht als ich jemals gedacht hätte. Ich habe so viele Sachen beobachtet, über vieles nachgedacht und meine eigenen Schlüsse daraus gezogen. Ich habe Erfahrungen gemacht. Und obendrein viele neue und wundervolle Freunde gefunden (darunter auch viele Chinesen).