Das Jahr 1968 ist als Jahr der Studentenunruhen in die Geschichte eingegangen. Dass damals aber nicht nur die Studenten in den großen Universitätsstädten auf die Straße gingen, sondern auch Schüler der früheren Ingenieurschulen für eine bessere Bildung demonstrierten, ist heute fast vergessen. Das mag daran liegen, dass die Ingenieurschüler nicht die Weltrevolution im Blick hatten und keinen gesellschaftlichen Umsturz planten. Dabei war die Wirkung ihrer Streiks umso nachhaltiger: Es entstanden bundesweit Fachhochschulen, die heute unter dem Begriff Hochschulen für angewandte Wissenschaften firmieren.
Beispiel Krefeld: Dort gab es seit 1958 die Staatliche Ingenieurschule für das Maschinenwesen (SIS). Sie stand seit Mitte der 60er Jahre auf der Reinarzstraße, wo heute Verwaltung und der Fachbereich Maschinenbau und Verfahrenstechnik der Hochschule Niederrhein ansässig ist. Die modernen Räumlichkeiten konnten aber nicht verdecken, dass die Ingenieurschule eigentlich eine bloße Schule war: Der Zugang erfolgte nach erfolgreichem Bestehen der Mittleren Reife und einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder einem zweijährigen Praktikum.
Hausaufgaben und Klassenbuch
40 Stunden pro Woche drückten die meist männlichen Studenten die Schulbank oder arbeiteten in Laboratorien, sie hatten Hausaufgaben und schrieben bis zu 25 Klausuren pro Semester. Wer den Abschluss schaffte, war ein graduierter Ingenieur, kein Diplom-Ingenieur, wie die Absolventen an den Technischen Hochschulen hießen. Problematisch wurde das durch die Römischen Verträge von 1957, die eine europaweit einheitliche Ingenieurausbildung vorsahen. Der später vorgelegte Gesetzentwurf stufte graduierte Ingenieure als Techniker ein. Die Fachschul-Ingenieure wären keine Ingenieure mehr gewesen – kein Wunder, dass die sich das nicht gefallen lassen wollten.
Bert Zapart, Jahrgang 1949, war 1968 Schüler der Ingenieurschule Krefeld und führte das Klassenbuch. Er erinnert sich: "Es war ein ganz normaler Schulbetrieb, mit regelmäßigen Klassenarbeiten. Wir nannten uns zwar Studenten, aber von studentischem Leben mit der Freiheit, die Seminare selbst zu wählen, spürten wir nichts."
Der Protest der Studenten richtete sich wesentlich gegen diesen Schulbetrieb – und gegen die fehlende Anerkennung als Ingenieure. Auslöser für die ersten Demonstrationen war ein Beschluss der Kultusministerkonferenz vom Januar 1968, in dem Akademien als "berufliche Ausbildungsstätten" definiert wurden, die zu einem "gehobenen Berufsabschluss" führten.
"Wir fühlten uns nun auch offiziell benachteiligt gegenüber Absolventen in anderen Ländern", sagt Zapart. In Krefeld kamen am 22. März 1968 621 von 677 Studenten zur Vollversammlung im Audimax der Textilingenieurschule am Frankenring zusammen. Der Streik wurde für Mitte April geplant. Einem Demonstrationszug durch Krefeld sollte die Fahrt nach Düsseldorf folgen. AStA-Vorsitzender Klaus-Jürgen Hamm gab sich auf der Vollversammlung zuversichtlich: "Direktoren und Dozenten sind ganz auf unserer Seite."
Die ersten Streiks zeigten keine Wirkung. Als die Kultusminister am 7. Juni trotz der Proteste an ihrer bisherigen Einstufung der Akademie festhielten, folgte am 11. Juni der Beschluss der Ingenieur-Studenten, den Lehrbetrieb flächendeckend zu boykottieren. Ihre Ziele: Wahlmöglichkeiten von Lehrveranstaltungen statt schulmäßigem Klassensystem; Einbeziehung der Ingenieurschulen in den Hochschulbereich und bessere theoretische Vorbildung der Studienbewerber für die neu geschaffenen Ingenieur-Abteilungen. Mit anderen Worten: Die Ingenieurschüler wollten Studenten einer Hochschule mit einem von der EWG anerkannten Ingenieurabschluss sein.
Die Kommilitonen an den Unis rümpften die Nase
Zum Sommersemester 1968 startete die erste große Demonstrations- und Streikwelle. Deutschlandweit wurden an den Ingenieurschulen die Vorlesungen boykottiert. Während die Kommilitoninnen und Kommilitonen an den großen Universitäten in Berlin, Frankfurt oder Göttingen über die Streiks in der Provinz nur die Nase rümpften und diese als unpolitisch abtaten, solidarisierten sich an den Ingenieurschulen die Dozenten mit ihren Schülern. Denn auch sie waren verständlicherweise an einer Aufwertung ihres Status interessiert.
In Krefeld traten Studenten der Staatlichen Ingenieurschule für Maschinenwesen und für Elektro- und Nachrichtentechnik sowie die Ingenieurschule für das Textilwesen in den Streik. Aber auch die Studentinnen und Studenten der Werkkunstschule zeigten sich solidarisch. In Mönchengladbach waren Studenten der Höheren Wirtschaftsfachschule, die Textilingenieurschule und der Hauswirtschaftsschule beim Streik dabei. Die Streiks lähmten die Ingenieurschulen bundesweit.
Die Politiker mussten handeln: Schon am 5. Juli beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder die Gründung von Fachhochschulen. Der Zugang zu diesem neuen Hochschultyp sollte durch eine Fachhochschulreife erfolgen, die Studienzeit wie bisher drei Jahre betragen, der Übergang zu einer wissenschaftlichen Hochschule ermöglicht werden und: Dozenten und Studenten sollten Mitbestimmungsrechte erhalten – ein Fakt, für den gerade erst die Kommilitonen an den Universitäten gestritten hatten.
Damit waren die Kernforderungen der Studenten zunächst erfüllt, die Streiks wurden abgebrochen – sicherlich auch, weil die Semesterferien vor der Tür standen. Im Oktober 1968 schlossen die Länder ein Abkommen zur Vereinheitlichung des Fachhochschulwesens. Darin war aber von akademischer Selbstverwaltung und dem Recht auf Forschung nicht die Rede, die geplanten Fachhochschulen sollten in uneingeschränkter Rechts- und Fachaufsicht den Ministerien untersehen. Das war wiederum nicht im Sinne der Studenten, die daraufhin beschlossen, den Boykott erneut aufzunehmen. Diesmal aber in verschärfter Form. An vielen Orten, auch in Krefeld, wurde das komplette Sommersemester 1969 bestreikt. Während 1968 der Streik erst zum Ende des Semesters gestartet war, opferten nun die Studenten ein ganzes Semester, um ihre Forderungen durchzusetzen.
Aber wiederum mit Erfolg: Im Juli 1969 klärte das vom Düsseldorfer Landtag verabschiedete Fachhochschulgesetz die offenen Punkte und deklarierte Fachhochschulen als Körperschaft des öffentlichen Rechts, die neben der Lehre auch das Recht auf Forschung besäßen.
Bert Zapart, der inzwischen zur Bundeswehr eingezogen worden war, kehrte 1971 nach Krefeld zurück – und war nicht mehr Schüler auf der Ingenieurschule sondern Student der neu gegründeten Fachhochschule Niederrhein. Die Lehrer dort hießen jetzt Professoren, die Schüler Studenten. Ein Klassenbuch gab es nicht mehr. Stattdessen den Dipl. Ing (FH) auf dem Abschlusszeugnis, der nun endlich den zuvor ausgestellten Ing. (grad) ablöste. 1974 machte Zapart seinen Abschluss.
"Der ganze Streik zeigte uns, dass unser Lernen durch ein bestimmtes Umfeld beeinflusst wurde und wir die Möglichkeiten erkannten, das mit zu beeinflussen. Wir lernten Eigeninitiative und Solidarisierung", sagt Zapart heute. Im Getöse von 1968 ging der Streik dennoch unter. Und genau das ist die Pointe: dass ausgerechnet die Fachhochschule mit ihren anwendungsorientierten, praktischen Studiengängen, die ihre Studierenden fit machen will für den Arbeitsmarkt, dass ausgerechnet die heutige Hochschule für angewandte Wissenschaft, die eher den unpolitischen Studierendentyp anzieht, durch den Druck der Straße entstanden ist.
Pressekontakt: Dr. Christian Sonntag, Referat Hochschulkommunikation der Hochschule Niederrhein: Tel.: 02151 822 3610; E-Mail: christian.sonntag(at)hs-niederrhein.de
Dieser Artikel ist zuerst als Gastbeitrag im Wissenschaftsblog von Jan-Martin Wiarda erschienen.