Mehr als 300 Arzneimittel fehlten zeitweise in deutschen Apotheken – und das mitten in der Grippewelle. Dieser brandaktuellen Problematik haben sich jetzt Studierende des Fachbereichs Chemie an der Hochschule Niederrhein intensiv gewidmet. Das Ergebnis: Ein detailliertes Konzept für eine Anlage, die gleich mehrere Probleme lösen könnte.
Weil die Rohstoffpreise und Lohnkosten in den USA und vor allem Asien deutlich günstiger als in Europa sind, lassen viele Pharma-Hersteller lieber auswärts produzieren. Diese Abhängigkeit hat Folgen: Wegen dortiger Lieferengpässe bleiben auch hierzulande die Regale in vielen Apotheken leer.
Selbst wenn in Europa stillgelegte Produktionsanlagen reaktiviert und die heimischen Kapazitäten wieder hochgefahren werden würden: Der Aufwand ist enorm und sehr teuer. Viele Anlagen konzentrieren sich mittlerweile auf andere begehrte Wirkstoffe – oder sind so veraltet, dass sie durch moderne Technik ersetzt werden müssten.
Wie die aussehen und effektiv genutzt werden könnte, darauf haben 20 Master-Studierende der Technischen Chemie eine Antwort gefunden. Unter der Leitung von Professor Dr.-Ing. Heyko Jürgen Schultz haben sie im Rahmen eines Seminars, das auf problembasiertes Lernen setzt, ein ausgefeiltes Konzept für eine Multiproduktanlage entwickelt. Sie kann mindestens vier Wirkstoffe als Tablette oder Fiebersaft herstellen.
Geplant hat die Projektgruppe mit Paracetamol, Aspirin, Diclofenac und Ibuprofen. Das Besondere an dieser Chemieanlage: Sie soll mindestens die doppelte Menge von dem erzeugen, was die Deutschen jährlich konsumieren – um weite Teile Europas beliefern zu können. Möglich wären 360.000 Tabletten und 2700 Fiebersaftflaschen - pro Stunde.
Die Anlage soll auch so konzipiert sein, dass sie für weitere knappe Wirkstoffe modular erweiterbar ist. Durch den hohen Automatisierungsgrad könnten weit über 20 Prozent Personal eingespart werden, schätzt Schultz.
Der Clou: Spezielle, moderne Messgeräte in den Leitungen und Reaktoren sollen Auffälligkeiten in Temperatur, Druck, elektrischer Leitfähigkeit oder der Zusammensetzung frühzeitig in der Produktionskette erkennen, melden und automatisch regeln.
Mithilfe eines modernen Verfahrens, bei dem Nahinfrarot- und Raman-Spektroskopie eingesetzt wird, können Stoffgemische analysiert werden – und zwar online während des Herstellungsablaufs. Dieses ausgeklügelte Analytik-Verfahren spart langwierige Transportwege zu den Laboren – und damit Zeit. „Das gibt es so in dem geplanten Umfang noch nicht. Wir sammeln permanent Daten, können sie jederzeit abrufen und zur Prozessoptimierung nutzen“, so Heyko Jürgen Schultz.
Das trägt den Themen Nachhaltigkeit und Energieeffizienz Rechnung: Wenn Fehler frühzeitig erkannt werden, kann die betroffene Charge noch im Produktionsverlauf verbessert werden. Damit werden keine Energie und Rohstoffe vergeudet, sondern effektiv und zielgerichtet eingesetzt. Die Produktausbeute wird höher, der Ausschuss minimiert.
„Wir haben hervorragend ausgebildete Chemikerinnen und Chemiker, Chemieingenieurinnen und –ingenieure an unser Hochschule, die eine Detailplanung samt Unterlagen zur Anlagengenehmigung vorgenommen haben“, lobt Schultz. Er ist sich sicher: Für Unternehmen könnte die Machbarkeitsstudie eine gute Vorlage sein, eine solche Anlage umzusetzen. „Ich bin überzeugt, dass das finanzierbar ist“, meint Schultz, der selbst viele Jahre in der Chemie-Industrie gearbeitet hat.